Leseprobe Bienentod

Das Polizeigebäude in Stettingen war ein lang gestreckter, zweistöckiger Bau in Gelb.
„Immer, wenn Architekten gar nichts einfällt und sie versuchen, etwas freundlich zu gestalten, verwenden sie diesen scheußlichen gelben Putz.“ Esther schüttelte den Kopf über sich selbst bei diesem Gedanken. Nicht schon wieder sarkastisch werden und dabei auch noch überheblich über die eigene Stilsicherheit. Jetzt musste sie ihr wichtiges Anliegen klar und deutlich vorbringen.
Sie strich ihren Rock glatt und betrat das Gebäude, in dessen weiß gefliestem Vorraum ein großes Schild darauf verwies, dass Besucher klingeln müssten. Esther atmete noch einmal tief ein, bezwang ihren Drang, im letzten Moment die Polizeistation wieder zu verlassen und drückte fest auf den weißen, altmodischen Klingelknopf.
Drinnen tippte eine Polizistin mit konzentriertem Blick etwas in ihren Computer. Unwirsch sah sie hoch, als es klingelte, und blickte Esther durch die Fensterscheibe prüfend an, bevor sie mit einem lauten Surren des automatischen Türöffners die Tür entriegelte. Esther drückte die Tür auf und betrat den Dienstraum, wo sie nun hinter einer alten, zerkratzten Holztheke stand. „Polizeidienststellen in Kleinstädten sehen immer noch so aus wie in meiner Kindheit“, dachte sie. Einen kurzen Augenblick erinnerte sie sich daran, dass sie einmal mit ihrem Vater einen Wilddieb zu einer Polizeistation gebracht hatte. Es war ihr genauso unwohl gewesen wie jetzt. Gerne wäre sie geflüchtet, damals wie heute.
„Ja bitte?“ Ein etwa 40-jähriger Polizist mit einem gepflegten blonden Schnurrbart stand ihr gegenüber.
Das senfgelbe Polizeihemd hat tatsächlich einen noch grauenhafteren Farbton als der Verputz des Hauses, ging es Esther durch den Kopf.

„Ich möchte jemanden als vermisst melden.“ Esther versuchte, ihre Stimme ruhig und sachlich zu halten, obwohl sie selbst das Zittern ihrer Lippen genau wahrnahm.
„Ach?“ Der Polizist horchte sichtlich auf, anscheinend geschah so etwas doch nicht so häufig hier in der Kleinstadt.
„Kommen Sie bitte ins Nebenzimmer.“
Er ließ sie sich an einen weißen Resopaltisch setzen, auf den ihre Hände zu legen Esther sich hütete, roch doch der Tisch nach jahrelang unabgewischten Spuren schweißnasser Hände, die sich daran bereits festgehalten hatten. Bevor der Polizist eine weitere Frage stellte, suchte er aus den Ablagen einen orangefarbenen Bogen heraus, auf dem er anscheinend die vorgefertigten Fragen für eine Vermisstenanzeige ablesen konnte.
Dann nahm er zuerst im Computer ihre Personalien auf.
„Nicht zu fassen“, dachte Esther, „Formalia gehen immer vor Inhalt, auch stattdessen“, und krallte ihre Finger unter dem Tisch fest ineinander, beantwortete jedoch betont ruhig und sachlich alle Fragen zu ihrer eigenen Person.
„Esther Lazaarus. - Berger Straße 10. - München.“ Sie buchstabierte ihren Nachnamen, der meist falsch geschrieben wurde.
„Aus München. Was treibt Sie denn zu uns nach Stettingen, Frau Lazaarus?“ Der Polizist sah sie verwundert, aber freundlich an.
„Die Frau, die verschwunden ist, kommt von hier.“
„Aha, wer ist das denn, den Sie vermisst melden wollen?“
„Christina Schildmann.“
„Wohnhaft hier in Stettingen?“
„Nun ja, zuletzt lebte sie nicht hier, aber aufgewachsen ist sie hier in der Stadt, in Stettingen.“ Esther stockte, denn sie erwartete, dass der Polizist seine Frage wiederholte, auf einer exakten Antwort bestand, aber er fuhr einfach fort mit der nächsten Frage, die er vom orangefarbenen Bogen ablas.
„Geburtsdatum?“
„Das weiß ich nicht genau, aber sie ist wohl etwa fünfunddreißig.“
Nun blickte er auf und sah ihr zum ersten Mal genauer in die Augen. „Ach, kennen Sie die Vermisste gar nicht richtig? In welchem Verhältnis stehen Sie denn zu der Person?“
„Ich bin“, Esther zögerte, ihre Finger krallten sich unter dem Tisch noch fester ineinander, „eine Bekannte.“
„So. Und seit wann vermissen Sie ihre Bekannte?“
Nun hatte der Polizist aufgehört zu schreiben. Ihre Antworten passten offensichtlich nicht zu den vorgegebenen Fragen.
„Seit Frühjahr letzten Jahres.“
Er blickte sie jetzt direkt an: „Und warum kommen Sie erst jetzt? - Nein, Sie erzählen mir erst mal alles der Reihe nach.“

Esther verwünschte in diesem Moment den Entschluss, hierher gekommen zu sein. Dieser Polizist war nicht der Richtige, der ihre Geschichte verstehen konnte. Was aber, falls doch?
Panik stieg in ihr hoch, aber sie bezwang ihre Fluchtgedanken.
Sie atmete tief durch und nahm sich vor, ihm die Geschichte in jenen Sätzen zu erzählen, die sie sich die ganze Nacht lang zurechtgelegt hatte. Sie hatte sich die möglichst knappen Worte so oft vorgesprochen, dass sie sie nun wie abgelesen abspulte.
„Ich habe Christina Schildmann im Frühjahr letzten Jahres im Urlaub in den Alpen kennen gelernt. Sie betrieb dort einen Bauernhof, zusammen mit ihrem Mann, einem jungen Bauern, den sie soeben erst geheiratet hatte. Ich wohnte in einer für Touristen zu mietenden Hütte, die zu dem Bauernhof gehört. Und ich habe mich während meines Urlaubs ein wenig mit Christina angefreundet.“
Esther hatte sich überlegt, dass der Polizist diese Fakten wissen müsse, um ihre Unkenntnis über manche Dinge, aber auch ihre Sorgen zu verstehen. Der Polizist hingegen schien sich nicht sicher, dass er diese Details wissen musste. Als Esther merkte, dass er Einwände erheben wollte, fuhr sie hastig in gestochen scharfem Ton fort: “Bei meinem nächsten Besuch auf diesem Bauernhof im Herbst erzählte mir ihr Mann, sie sei fort gegangen. Doch zu ihren Eltern hierher nach Stettingen ist sie nie zurück gekommen, wie ich jetzt erfahren habe. Auch ihre Freundinnen haben seitdem nichts von ihr gehört.“ Nach einem Zögern, bei dem er sie fragend ansah, schob sie erklärend nach: „Ich habe alle, die sie gut kannten, nach Christina befragt.“
Esther fragte sich, ob diese Fakten dem Polizisten nun genügen würden.

„Sie möchten also eine Vermisstenanzeige über eine fünfunddreißigjährige, verheiratete Frau aufgeben, die weder ihr Ehemann noch ihre Eltern bisher wirklich als vermisst ansehen.“
„Ja.“ Esther blickte ihn herausfordernd an.
Der Polizist betrachtete sie etwas gerührt, aber ratlos, und holte tief Luft.
„Wissen Sie, ich kann das schon aufnehmen, aber ich kann Ihnen auch gleich sagen, dass aufgrund einer solchen Anzeige nahezu keine Aktivitäten gestartet werden. Vielleicht wird man mal die Eltern oder den Ehemann anrufen und sie fragen, wo sie ihre Tochter oder Ehefrau vermuten, aber das ist auch das Höchste.“
Er schien auf eine Antwort von Esther zu warten, aber sie gab kein Wort des Verständnisses von sich. Innerlich rang sie mit sich, welche Informationen sie noch preisgeben könne, aber in ihr verschloss sich alles. Wenn er jetzt nicht das Richtige nachfragte, dann wollte er ihre Geschichte nicht hören, er hatte sie nicht verdient.

Der Polizist fuhr fort mit seinem Versuch, Esther zu überzeugen, dass eine solche Vermisstenanzeige keinen Sinn haben werde. Jegliche weitere Mühe von ihm sei zwecklos, beteuerte er, wie er aus Erfahrung wisse.
Dennoch konnte man ihm ansehen, dass ihm die Frau, die da vor ihm saß und offenbar verzweifelt darüber war, ihre Freundin verloren zu haben, leid tat, aber er hatte schon öfter Vermisstenanzeigen aufgenommen und nach seiner Erfahrung waren die Suchenden meist weitaus verzweifelter als die Gesuchten.
„Sehen Sie, prinzipiell dürfen sich erwachsene Personen aufhalten, wo sie wollen, auch ohne in ihrem Bekannten- oder Verwandtenkreis darüber Auskunft zu geben. Ein dringender Verdacht, dass der Person etwas passiert ist, dass sie Opfer eines Unfalls oder einer Straftat geworden ist, ist hier nicht wirklich zu sehen.“ Er seufzte.
„Sie sollten wenigstens die direkten Verwandten, die Eltern oder den Ehemann, dazu bringen, eine Vermisstenanzeige aufzugeben, dann hat das schon andere Konsequenzen, wenn auch selbst dann nicht immer sehr intensiv gefahndet wird.“
Der Polizist hatte dies Esther in einem sehr persönlichen und ehrlichen Ton erklärt.
Esther nickte. Alles Ringen in ihr schien zusammenzuschmelzen. Mit aller Kraft nahm sie sich zusammen, sagte knapp „Danke“ und verließ das Polizeipräsidium mit einem nachdenklichen Polizisten am Tisch. Warum war diese Frau eigentlich zu ihm gekommen? Einfach in der verzweifelten Hoffnung, dass er ihr die Freundin zurückbringen könne? Oder drückte ihre Verzweiflung, die er sehr wohl gespürt hatte, vielleicht eine andere Angst aus? Er dachte nach. Vielleicht die Angst darüber, dass ihre Freundin sich das Leben genommen haben könnte. Gesagt hatte sie das nicht, aber oft konnten die Menschen nicht ausdrücken, dass ein ihnen nahe stehender Mensch Selbstmord begangen haben könnte. Selbstmord gehörte immer noch zu den alten Tabuthemen. Man verneinte das Leben damit.
Er schüttelte den Kopf. Vielleicht hätte er sie noch mehr befragen sollen. Zweifelnd und mit einem unguten Gefühl blickte er ihr durch das Fenster nach.

Esther bemühte sich um eine aufrechte Haltung und einen energischen Gang, als sie die Straße hinunterlief. Falls der Polizist ihr nachsah, sollte er nicht merken, wie schlecht es ihr ging.
Sobald sie um die Ecke gebogen und außer Sichtweite des Polizisten war, atmete sie erleichtert auf. Sie blieb auf einem Rasenstück neben einer hohen Birke stehen, deren Zweige sich im Wind leise bewegten. Aus dem Rascheln der Blätter heraus hörte Esther plötzlich das Summen einer Biene, die sich auf dem Stamm des Baumes niederließ. Esther starrte auf den Stamm, bis das Weiß und Schwarz der Rinde zusammen mit der Biene vor ihren Augen verschwammen. Alles schien sich um sie zu drehen, immer schneller zu wirbeln. Esther holte aus und schlug mit der geballten Faust gegen den Baumstamm, einmal, zweimal. Wieder und wieder, bis ihr das Blut über die Hand lief.
Sie wusste, dass Christina etwas Schreckliches passiert war.

Als sie ihr Blut rinnen sah, blickte sie sich entsetzt um. Sie hatte für einen Moment die Kontrolle über sich verloren. Zum Glück war kein Mensch in der Nähe, der sie gesehen hatte. Sie schlug noch einmal gegen den Stamm. Die Biene war nicht mehr zu sehen. Mit Genugtuung spürte sie ihre schmerzenden Handknöchel. Sie atmete tief aus. Allmählich konnte sie ihre Umgebung wieder klarer wahrnehmen.

Esther lief die wenigen Meter weiter bis zu ihrem BMW. Bevor sie einstieg, wischte sie sich sorgfältig mit Desinfektionstüchern, die sie immer bei sich hatte, ihre Hand sauber. Es brannte. Aber es hätte ihr gerade noch gefehlt, in ihrem peinlich sauberen Auto Blutflecken zu haben.
Sie fuhr los.

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